Startseite/Engagieren/Artikel

Nov 12, 2022 445 0 Bischof Robert Barron, USA
Engagieren

Worte der Weisheit: Warum der vermeintliche Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion tragischer Unfug ist

Kürzlich hatte ich das Vergnügen, auf dem Jugendtag des Religionspädagogischen Kongresses in Los Angeles zu sprechen. Meine Zuhörer waren etwa 400 Highschool-Schüler aus dem ganzen Land, und auf Wunsch der Organisatoren des Kongresses war die Beziehung zwischen Religion und Wissenschaft mein Thema. Sie wussten, dass ich seit Jahren darauf hinweise, dass einer der Hauptgründe für die Entfremdung vieler junger Menschen von unseren Kirchen der vermeintliche Konflikt zwischen Wissenschaft und Glauben ist. Ich erklärte meinen jungen Zuhörern, dass dieser „Krieg“ in Wahrheit ein Hirngespinst ist, eine Illusion und die Frucht eines tragischen Missverständnisses. Und ich habe versucht, dies anhand von vier Punkten zu zeigen, die ich in diesem Artikel kurz zusammenfassen möchte.

Erstens sind die modernen Naturwissenschaften in einem sehr realen Sinne aus der Religion hervorgegangen. Die großen Begründer der Wissenschaft – Kepler, Kopernikus, Galilei, Newton, Descartes usw. – erhielten ohne Ausnahme ihre Ausbildung in kirchlich geförderten Schulen und Universitäten. Es war unter der Schirmherrschaft der Kirche, dass sie ihre Physik, ihre Astronomie und ihre Mathematik erlernten. Genauer gesagt, lernten sie in diesen Einrichtungen zwei im Wesentlichen theologische Wahrheiten, die für die Entstehung der experimentellen Wissenschaften notwendig waren: dass nämlich das Universum nicht Gott ist und dass das Universum an allen Ecken und Enden durch Intelligenz gekennzeichnet ist. Wäre die Natur selbst göttlich – wie es viele Religionen, Philosophien und Mystizismen meinen -, dann könnte sie niemals ein geeigneter Gegenstand für Beobachtung, Analyse und Experimente sein. Und wenn die Natur andererseits einfach nur chaotisch und formlos wäre, würde sie niemals jene Harmonien und strukturierten Intelligenzen hervorbringen, nach denen Wissenschaftler so gerne suchen. Wenn diese beiden Wahrheiten, die beide eine Funktion der Schöpfungslehre sind, zugrunde gelegt werden, können die Wissenschaften überhaupt erst ihre Arbeit aufnehmen.

Zweitens stehen Wissenschaft und Theologie, wenn sie richtig verstanden werden, nicht im Widerspruch zueinander, da sie nicht wie gegnerische Fußballmannschaften auf demselben Spielfeld um die Vorherrschaft konkurrieren. Mit Hilfe der wissenschaftlichen Methode befassen sich die Naturwissenschaften mit Ereignissen, Objekten, Dynamiken und Beziehungen innerhalb der empirisch überprüfbaren Ordnung. Die Theologie, die eine ganz andere Methode anwendet, befasst sich hingegen mit Gott und den Dingen Gottes – und Gott ist kein Objekt in der Welt, keine Realität, die in den Kontext der Natur eingebettet ist. Wie Thomas von Aquin es ausdrückte, ist Gott nicht ens summum (ein höchstes Wesen), sondern ipsum esse (das Sein selbst) – das heißt, Gott ist kein Wesen unter anderen Wesen, sondern der Grund, warum es überhaupt ein empirisch beobachtbares Universum gibt. Auf diese Weise kann man ihn eher mit dem Autor eines Romans mit zahlreichen Handlungssträngen vergleichen. So taucht etwa Charles Dickens in keiner seiner weitläufigen Erzählungen als Figur auf, und doch ist er der Grund dafür, dass diese Figuren überhaupt existieren. Ebenso können die Wissenschaften als solche niemals die Frage nach der Existenz Gottes entscheiden oder über sein Wirken oder seine Eigenschaften sprechen. Eine andere Art von Rationalität – die nicht mit der wissenschaftlichen Rationalität konkurriert – ist für die Bestimmung dieser Fragen erforderlich.

Und damit komme ich zu meinem dritten Punkt: Szientismus ist keine Wissenschaft. Der heute leider vor allem unter jungen Menschen weit verbreitete Szientismus besteht in der Reduktion allen Wissens auf die wissenschaftliche Form der Erkenntnis. Der unbestreitbare Erfolg der Naturwissenschaften und die außerordentliche Nützlichkeit der Technologien, die sie hervorgebracht haben, haben in den Köpfen vieler diese Überzeugung hervorgebracht; sie stellt jedoch eine tragische Verkürzung dar. Ein Chemiker könnte uns vielleicht die chemische Zusammensetzung der Farben nennen, die Michelangelo für die Decke der Sixtinischen Kapelle verwendet hat, aber als Wissenschaftler könnte er uns nichts darüber sagen, was dieses Kunstwerk so schön macht. Ein Geologe könnte uns vielleicht sagen, wie die Erde unter der Stadt Chicago geschichtet ist, aber als Wissenschaftler könnte er uns niemals sagen, ob diese Stadt gerecht oder ungerecht regiert wird. In Romeo und Julia findet sich nicht die Spur einer wissenschaftlichen Methode, aber wer wäre so dumm zu behaupten, dass dieses Stück uns nichts Wahres über das Wesen der Liebe mitteilt. In ähnlicher Weise sind die großen Texte der Bibel und der theologischen Tradition nicht „wissenschaftlich“, aber sie drücken dennoch die tiefsten Wahrheiten über Gott, Schöpfung, Sünde, Erlösung, Gnade usw. aus. Der Szientismus ist sowohl der Grund als auch die Folge der Abwertung der Geisteswissenschaften an unseren höheren Bildungseinrichtungen. Anstatt Literatur, Geschichte, Philosophie und Religion als Träger objektive Wahrheit zu schätzen, werden sie heute von vielen in den Bereich des subjektiven Empfindens verwiesen oder einer vernichtenden ideologischen Kritik unterzogen.

Mein vierter und letzter Punkt: Galilei ist nur ein Abschnitt in einem Kapitel eines sehr langen Buches. Der große Astronom wird oft als Schutzpatron heldenhafter Wissenschaftler angerufen, die darum kämpfen, frei zu werden vom Obskurantismus und der Irrationalität der Religion. Die Zensur seiner Bücher durch die Kirche und die faktische Inhaftierung des großen Wissenschaftlers auf Geheiß des Papstes werden gern als Paradebeispiel der Beziehung zwischen Kirche und Wissenschaft angesehen. Und natürlich war die Galilei-Episode nicht gerade eine Sternstunde der Kirche, und tatsächlich hat sich Johannes Paul II. dafür ausdrücklich entschuldigt und echte Reue hierüber ausgedrückt. Aber das Zusammenspiel zwischen Glaube und Wissenschaft ausschließlich durch diese Brille zu betrachten, ist völlig unangemessen. Seit den Anfängen der modernen Wissenschaften waren Tausende tiefreligiöser Menschen an wissenschaftlicher Forschung und Untersuchung beteiligt. Um nur ein paar zu nennen: Kopernikus, der revolutionäre Kosmologe, war Laienbruder der Dominkaner; Nicolaus Steno, Vater der Geologie, war ein Bischof der Kirche; Louis Pasteur, einer der Begründer der Mikrobiologie, war gläubiger katholischer Laie; Gregor Mendel, der Vater der modernen Genetik, war Augustinermönch; Georges Lemaître, Urheber der Urknalltheorie, war katholischer Priester; Mary Kenneth Keller, die erste Frau in den Vereinigten Staaten mit einem Doktortitel in Informatik, war katholische Ordensschwester. Ich glaube, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass alle diese Persönlichkeiten die grundlegenden Punkte verstanden hatten, die ich in diesem Artikel dargelegt habe, und daher erkannt hatten, dass sie sich sowohl ihrer Wissenschaft als auch ihrem Glauben voll und ganz widmen können.

Abschließend möchte ich vor allem die katholischen Wissenschaftler von heute – Forscher, Mediziner, Physiker, Astronomen, Chemiker usw. – dazu auffordern, mit jungen Menschen über dieses Thema zu sprechen. Erklären Sie ihnen, warum der angebliche Krieg zwischen Religion und Wissenschaft in Wirklichkeit ein Trugbild ist, und – was noch wichtiger ist – zeigen Sie ihnen, wie Sie beides in Ihrem eigenen Leben miteinander in Einklang gebracht haben. Wir können nicht zulassen, dass diese alberne Begründung für eine Entfremdung von der Kirche stehen bleibt.

Teilen:

Bischof Robert Barron

Bischof Robert Barron Der Artikel erschien ursprünglich bei wordonfire.org. Nachdruck mit Genehmigung

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Neueste Artikel