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Lange machte ein Schüler seinen Lehrern das Leben schwer. Bis der Lateinlehrer anfing, für den Schüler zu beten.
Ich hatte gerade meine erste Stelle als Lehrer angetreten und übernahm meine ersten Kurse, darunter eine Lateinklasse im 9. Jahrgang. Von meinem Vorgänger bekam ich mit auf den Weg, dass ich auf einen Schüler – nennen wir ihn Felix – besonders achten solle: „Lass ihm nichts durchgehen! Wenn er sich etwas zuschulden kommen lässt, melde es, damit wir Handhabe haben, ihn der Schule zu verweisen!“ riet er mir. Dieser Ratschlag widersprach zutiefst meinem Lehrerideal, aber tatsächlich tat oder unterließ Felix wirklich alles, um sich auch bei mir bald unbeliebt zu machen und die Schulordnung zur Anwendung zu bringen.
Zunächst versuchte ich, sein Vertrauen zu gewinnen, und ließ es bei Ermahnungen. Als die Anzahl der nicht erledigten Hausaufgaben aber eine nicht mehr vertretbare Marke erreicht hatte, musste ich ihn zur Nacharbeit unter Aufsicht bestellen, was sein Klassenlehrer abzeichnen musste. Am gleichen Tag war er auch noch mit einem Referendar aneinandergeraten. Als ich am nächsten Tag zum Religionsunterreicht in die Klasse kam, stand zu meinem Entsetzen an der Tafel: „Herr Schrörs und Herr M. haben es geschafft! Game Over!“
Ich erklärte meinen Schülern, dass ich nicht Lehrer geworden sei, um Jugendlichen die Zukunft zu verbauen. Vielmehr wolle ich ihnen helfen, ihren Weg zu finden. Doch Felix schimpfte nur: „Ich bin doch in eurer aller Augen nur das letzte Stück Sch… !“
„Nein, das bist du nicht!“ widersprach ich.
„Was bin ich denn in Ihren Augen?“ fragte er mich provozierend.
„In meinen Augen“, sagte ich, „bist du – und das ist kein Religionslehrergelaber, sondern meine tiefste Überzeugung – ein Ebenbild Gottes, wie jeder Mensch. Aber von einem Ebenbild Gottes erwarte ich auch, dass es sich so verhält. Du kannst doch nicht erwarten, dass ich dir das durchgehen lasse, was ich bei deinen Mitschülern auch sanktionieren muss.“
Bedrücktes Schweigen.
Am Nachmittag gab es dann also die Nacharbeit unter Aufsicht. Normalerweise überwacht dabei ein unmotivierter Lehrer in einem großen Saal zehn oder mehr noch weniger motivierte Schüler, die irgendwelche mehr oder weniger sinnvollen Aufgaben zu erledigen haben. Ich bat den Kollegen, mir Felix herauszugeben, damit ich allein mit ihm arbeiten könne.
„Sie hier?“ staunte Felix. „Sie haben doch frei, was wollen Sie?“
„Ich will mit dir für die nächste Arbeit lernen, du hast ja sicherlich noch große Lücken. Und dann zeigst du allen, dass du nicht das letzte Stück Sch… bist!“
„Was ist das denn für eine Strafe?“ staunte er. „Da baut man Mist und bekommt zur Belohnung kostenlose Nachhilfe vom Profi!“
Nach dieser Stunde, bei der es nicht nur um den Satzbau bei Cäsar ging, war das Eis gebrochen. Sein Verhalten und die Aufgaben waren mir gegenüber fortan okay, nicht aber bei den anderen Kollegen. Wenn ich wieder einmal Klagen hörte, dass eine Klassenkonferenz wohl unumgänglich war, rempelte ich ihn in der Pause an: „Ey, morgen zeigst du unaufgefordert Mathe und Physik der letzten beiden Stunden nach, sonst kann ich für nichts garantieren! Verstanden?“ – „Verstanden! Danke!“ Die Kollegen wunderten sich dann immer über die „wundersame Einsicht“ von Felix. Dennoch waren schließlich die Eltern der Meinung, dass er für die 10. Klasse auf ein Internat gehen sollte, wo er besser betreut werden könne.
Nachdem er bereits ein paar Wochen auf der neuen Schule war, schrieb ich Felix einen Brief, in dem ich ihm alles Gute wünschte und ihm anbot, sich bei mir zu melden, wenn er mal jemanden zum Reden brauche. Schon wenige Tage später ging das Telefon:
„Hier ist Felix. Kann ich vorbeikommen?“ – „Ja, wann?“ Die Antwort: „Am besten sofort und mit meinen Eltern!“
Was konnte nur passiert sein? Wegen einer blöden Sache, an der Felix nach eigenen Aussagen unschuldig war, war er nun auch vom Internat geflogen. Und genau an diesem Tag war mein Brief eingetroffen!
Wir führten ein langes Gespräch darüber, welche Möglichkeiten es nun noch für Felix gäbe, der im Übrigen ein sehr cleverer Schüler war, jetzt aber ohne Hauptschulabschluss dastand.
Als wir uns verabschiedeten, sagte ich: „Felix, ich bete für Dich!“
„Herr Schrörs, das weiß ich!“ gab er mir zur Antwort.
Und das war leider auch das Einzige, was ich für ihn tun konnte. Obwohl ich mich für ihn verwandte, wollte unsere Schule ihn nicht wiederaufnehmen, und auch die Schulen der Umgebung lehnten ihn ab. Bei einem Rektor hatte es zwar immerhin ein Gespräch gegeben; seine Schule hatte ihn dann am Ende aber auch abgelehnt.
Damals gab es bei uns im Xantener Dom sonntagsabends Jugendmessen mit freier Fürbitte. Ich ging nach vorn, legte Weihrauch auf die Kohle und bat mit Tränen in den Augen um eine faire Chance für Jugendliche in schweren Situationen. Dabei dachte ich natürlich nur an einen einzigen Jugendlichen: an Felix.
Und dann geschah das Wunder: Am nächsten Morgen rief der Rektor eines der Gymnasien, die Felix bereits abgelehnt hatten, bei dessen Eltern an. Er habe am Sonntagabend sich die Sache nochmals überlegt und keine Ruhe gefunden. Er wolle Felix doch eine Chance geben. Am Sonntagabend? dachte ich. Das war genau zur Zeit meiner Fürbitte!
Ich blieb mit der Familie in Kontakt. Als das Schuljahr zu Ende war, ging das Telefon: „Herr Schrörs, ich möchte Ihnen mein Zeugnis vorlesen.“ Und dann las er vor: lauter gute Noten! Die mittlere Reife war erreicht und sogar die Verhaltensnoten, die es damals noch gab, waren gut bis sehr gut. Wieder einmal hatte ich gelernt, dass Beten hilft!
Felix hat später eine Ausbildung zum Sozialarbeiter gemacht. Wer, wenn nicht er, kann schwierige Jugendliche verstehen!
Tobias Schrörs (47 Jahre) ist Studienrat für Latein und katholische Religion sowie Schulseelsorger am Stiftsgymnasium in Xanten am Niederrhein. Nebenamtlich ist er Kirchenmusiker in Sonsbeck.
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