Startseite/Genießen/Artikel

Okt 21, 2021 843 0 Pater Augustine Wetta O.S.B, USA
Genießen

So tun, als ob

Als ich noch sehr jung war, fragte ich meinen Vater, ob es wirklich notwendig sei, die eigene Schwester zu lieben (selbst den Feind zu lieben schien mir damals vernünftiger). Mein Vater bestand natürlich darauf, dass es notwendig sei.  Und ich erinnere mich, dass ich ihm ausführlich erklärte, dass dies unter den gegebenen Umständen sehr schwierig, ja eigentlich unmöglich wäre und dass wir vielleicht erwägen sollten, sie zur Adoption freizugeben.  Mein Vater sagte zu mir: „Jason, du wirst es vielleicht nicht glauben, aber eines Tages wirst du entdecken, dass du deine Schwester wirklich liebst.  Und wenn dieser Tag kommt, wirst du tatsächlich nett zu ihr sein wollen.  Aber in der Zwischenzeit… tu so, als ob!“

Damals klang das wie ein eiskalter Ratschlag, aber wenn wir in die Tat umsetzen sollen, was Christus im Evangelium von uns verlangt – wenn wir unsere Nächsten wirklich so lieben sollen, wie wir uns selbst lieben -, dann wird es Zeiten geben, in denen wir uns nicht nach unseren Gefühlen richten sollten. Denn, seien wir ehrlich, manche Menschen sind sehr, sehr schwer zu lieben. Aber wenn man darüber nachdenkt, dann sind genau jene Momente, in denen wir uns zwingen müssen, diese Liebe zu unserem Nächsten „vorzutäuschen“, oft die aufrichtigsten Momente der Liebe, weil wir gerade dann Liebe geben, ohne auf eine Gegenleistung zu hoffen. Und wenn die Weisen rechtbehalten, dann ist das seltsame Ergebnis einer solchen vorgetäuschten Zuneigung, dass aus ihr eine ungeheuchelte Zuneigung zu wachsen beginnt.

Bis wir also an den Punkt gelangen, an dem es für uns selbstverständlich wird, alle Menschen zu lieben, ist es vielleicht bis dahin am besten, so zu tun, als ob wir sie lieben – ob wir dies nun tatsächlich fühlen oder nicht -, und in der Zwischenzeit zu hoffen, dass wir sie eines Tages mit den Augen des Glaubens sehen können.

Himmlischer Vater, ich übergebe dir all meine Schwierigkeiten, bestimmte Menschen in meinem Leben auszuhalten. Gib mir die Kraft und den Mut, sie mit Güte und Liebe zu ertragen, auch wenn ich das Gefühl habe, zu scheitern. Hilf mir, geduldig, freundlich, langsam zum Zorn und barmherzig zu sein. Wenn ich das Gefühl habe, davonlaufen zu müssen, erinnere mich an die Gnade, die du mir erwiesen hast, als ich an meinem Tiefpunkt war. Lass mich sie so lieben, wie du mich liebst, so bitte ich in Jesu Namen. Amen.

Teilen:

Pater Augustine Wetta O.S.B

Pater Augustine Wetta O.S.B ist Benediktinermönch und dient als Kaplan an der Saint Louis Priory School. Er ist der Autor von „Der achte Pfeil“ und „Regeln der Demut“. Pater Augustinus lebt in der Abtei Saint Louis in Saint Louis, Missouri.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Neueste Artikel