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Okt 18, 2024 48 0 Kiro Lindemann
Begegnung

Die Bombe, die unser Leben zerriss

Der Terroranschlag auf die christliche Kirche in Alexandria schlug 2011 ein tiefes Loch in das Leben von Kiro Lindemann. Doch es gelang ihm zu vertrauen, dass Gott es gut meint mit ihm und seinem Leben.

Es war Neujahr 2011, 20 Minuten nach Mitternacht. Stundenlang hatten wir seit dem Silvesterabend in unserer Al-Qiddissine-Kirche in Alexandria/Ägypten ins neue Jahr hineingefeiert. Ich verabschiedete mich drinnen noch von Freunden, während meine Familie draußen auf mich wartete. Das rettete mir das Leben. In einem Auto direkt vor der Kirche zündete ein Selbstmordattentäter einen Sprengsatz und riss 23 Menschen mit in den Tod. 97 weitere Personen wurden verletzt, zum Teil schwer. Auch meine Mutter Theresa, meine Schwester Mary und meine Tante Zahi waren unter den Toten; nur eine Woche später hätte Mary geheiratet. Meine zweite Schwester Marina überlebte schwer verletzt.

So stand ich mit 19 Jahren praktisch allein da. Zu viert waren wir in die Kirche gegangen, hatten freudig das Jahr 2011 mit Lobpreis begrüßt – und nun kam ich allein zurück. Meine Familie gab es nicht mehr. In nur einem einzigen Augenblick hatte die Bombe mein ganzes bisheriges Leben zerrissen. Nur mein Vater war nicht betroffen, da er aus beruflichen Gründen nicht mit in den Gottesdienst hatte gehen können.

Lange wollte ich nicht wahrhaben, dass meine Mutter nicht mehr lebte; lange konnte ich nicht verstehen, dass meine Schwester tot war. Marina, die überlebt hatte, drohte die Amputation beider Beine. Immer wieder musste sie operiert werden, doch es wurde nicht besser. Ein Kontakt in Deutschland vermittelte eine OP-Möglichkeit in München. Das half ihren Beinen. Doch bis heute hat sie sich von den psychischen Traumata nicht erholt. Obwohl sie überlebt hatte, ist auch von ihr ein Teil für immer gestorben an jenem 1. Januar 2011.

Der Alltag der Verfolgung

Als christliche Minderheit in Ägypten war Verfolgung für uns ganz normal. Ich wuchs damit auf, dass wir in der Gesellschaft nicht erwünscht waren. In den Augen der muslimischen Mehrheit galten wir Christen als ein Fehler Gottes. Jeden Freitag schrien Imame uns über Lautsprecher aus den Moscheen zu, dass die Juden und Christen Ungläubige und „Schweine“ wären. Entsprechend sah unser Alltag aus. In der Schule wurden wir gemobbt und von Lehrern oft grundlos geschlagen, nur weil wir Christen waren. Unsere Religionszugehörigkeit stand sogar im Ausweis, und schon an unseren Namen erkannte man uns: Wir hießen Christian, Lukas, Johannes oder Kiro – und eben nicht Mohammed, Mustafa oder Ahmed. Weil Entführungen von christlichen Kindern nicht selten waren, bekam ich schon als Kleinkind ein Kreuz auf den Unterarm tätowiert, damit ich, falls ich gekidnappt worden wäre, später einmal hätte wissen können, dass ich ein Christ bin.

Das Privileg, für Jesus zu leiden

Immer wieder hatte ich meine Mutter gefragt, warum wir so leiden müssen, obwohl wir doch gar nichts angestellt hatten. Wir liebten doch nur Christus und glaubten, dass man seinen Nächsten lieben solle wie sich selbst. Warum hasste man uns dafür? Meine Mutter hatte darauf geantwortet: „Dein Glaube ist das Wichtigste, was du im Leben hast. Es ist ein Privileg, wenn wir für den Namen Jesus leiden dürfen.“ Sie sagte auch: „Unsere Zeit auf der Erde ist vergänglich. Irgendwann müssen wir gehen. Aber die Frage ist: Gehen wir dann zum Himmel? Denn das ist unsere Heimat.“ In diese Heimat war sie nun gegangen, sogar als Märtyrerin.

Besonders prägte mich auch der folgende Ausspruch meiner Mutter: „Wenn du einen Diamanten hast, den man dir wegnehmen will, dann wirst du ihn besonders fest an dich drücken. Genauso ist es mit dem Glauben.“ Die Wahrheit dieser Worte durfte ich jetzt erfahren. Denn trotz des Verlustes meiner engsten Familienmitglieder wurde ich nicht bitter. Auch jetzt noch wusste ich, dass Gott da war. Er war meine einzige Hoffnung. Und ihn drückte ich nun nur noch fester an mich.

Natürlich überlegte ich immer wieder, warum ausgerechnet ich das Attentat überlebt hatte. Ich war keine 10 Meter von der Explosion entfernt gewesen. Nur die schwere Kirchentür hatte mich geschützt. Ich empfand sogar Schuld: Meine Familienmitglieder waren gestorben, weil sie auf mich gewartet hatten. Hätte ich die Kirche schneller verlassen, wären wir alle schon auf dem Heimweg gewesen, noch bevor der Sprengsatz explodierte – und sie alle würden noch leben. Doch nach einer langen Zeit des Grübelns gab ich die Sache an Jesus ab. Ich entschied mich, nicht in Klagen und Selbstmitleid zu verfallen und nicht damit zu hadern, warum ausgerechnet meiner Familie – und mir – das alles angetan worden war. Vielmehr stellte ich die Frage, wozu das alles dienen sollte. Jesus hat, als er auf der Erde war, als Zimmermann das Holz behauen, bis es am Ende zu einem Kunstwerk wurde. Und so arbeitet er auch an uns. Er behaut uns und schleift an uns, bis wir so werden, wie er uns haben will. Daher vertraute ich darauf, dass Gott auch einen Plan für mein Leben hat. Schließlich wusste ich aus der Schrift, dass bei denen, die ihn lieben, Gott alles zum Guten führt (Römer 8:28).

Flucht

In den Jahren nach dem Attentat versuchte ich mich in meinem Heimatland politisch zu engagieren, wurde aber schon bald persönlich bedroht. 2014 startete ich daher mehrere Versuche, das Land zu verlassen, doch als Ägypter bekam ich kein Visum nach Europa. Also buchte ich einen Flug in die Türkei und gelangte auf einer komplizierten Route über Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Südkorea und Ecuador in die Niederlande. Der Tag, an dem ich endlich meinen Fuß auf europäischen Boden setzen konnte, war der glücklichste meines Lebens. Doch auch in den Niederlanden wollte man mich abschieben, weil man die Verfolgung von Christen in Ägypten nicht als Asylgrund anerkannte. Also flüchtete ich schließlich noch nach Deutschland, wo man mir Asyl gewährte und ich bald die Sprache lernte. Auf der Flucht und später in meiner Asylunterkunft hatte ich keinen Menschen, dem ich vertrauen konnte. Doch ich hatte meinen Gott! Er trug mich immer weiter.

Lange konnte ich dem Attentäter nicht vergeben. Doch mittlerweile kann ich sogar für ihn beten.

Beschenkt

Rückblickend sehe ich, wie Gott mich in all diesen Jahren immer beschützte – und wie er mich immer neu beschenkt. Im Januar 2020 hatte er ein besonderes Geschenk für mich: Ich lernte meine Frau kennen, die Lehrerin im Münster ist. Die Familie, die ich mit ihr gründen durfte, füllt heute mit neuer Freude und Hoffnung die Lücke, die das Attentat in mein Leben gerissen hat. Und so heißt meine Frau auch: Theresa Maria – genau wie meine verstorbene Mutter und Schwester.

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Kiro Lindemann

Kiro Lindemann wurde 1990 in Ägypten geboren. Er floh 2014 aus Ägypten nach Deutschland. Gemeinsam mit seiner Frau Theresa und ihren beiden kleinen Kindern lebt er im Münsterland. Das Ehepaar engagiert sich aktiv im katholischen Gemeinde-Start-up Emmanuel House Münster.

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