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Apr 13, 2024 222 0 Bischof Robert Barron, USA
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Der heilige Irenäus und der Gott, der uns nicht braucht

Vor einigen Jahren nahm ich an der Jahrestagung der Academy of Catholic Theology teil, einer Gruppe von etwa fünfzig Theologen, die sich dem Denken im Sinne der Kirche widmen. Unser allgemeines Thema war die Dreifaltigkeit, und ich war eingeladen worden, einen der Vorträge darüber zu halten. Ich beschloss, mich auf das Werk des heiligen Irenäus zu konzentrieren, eines der frühesten und wichtigsten Kirchenväter.

Irenäus wurde um 125 in der Stadt Smyrna in Kleinasien geboren. Als junger Mann wurde er Schüler von Polykarp, der wiederum ein Schüler des Evangelisten Johannes gewesen war. Später reiste Irenäus nach Rom und schließlich nach Lyon, wo er nach dem Märtyrertod seines Vorgängers Bischof wurde. Irenäus starb um das Jahr 200, höchstwahrscheinlich als Märtyrer, obwohl die genauen Einzelheiten seines Todes in der Geschichte verlorengegangen sind.

Sein theologisches Meisterwerk trägt den Titel „Adversus Haereses“ („Gegen die Häresien“), und es ist viel mehr als nur eine Widerlegung der wichtigsten Einwände gegen den christlichen Glauben seiner Zeit. Es ist eine der eindrucksvollsten Darstellungen der christlichen Lehre in der Geschichte der Kirche, die ohne weiteres dem „De Trinitate“ des heiligen Augustinus und der „Summa theologiae“ des heiligen Thomas von Aquin gleichkommt. In meinem Text in Washington habe ich argumentiert, dass der Leitgedanke in der Theologie des Irenäus darin besteht, dass Gott nichts außerhalb seiner selbst braucht. Mir ist klar, dass dies auf den ersten Blick ziemlich entmutigend erscheint, aber wenn wir Irenäus‘ Beispiel folgen, sehen wir, dass sich dadurch geistlich gesehen eine ganz neue Welt eröffnet. Irenäus wusste alles über die heidnischen Götter und Göttinnen, die dringend des Lobes und der Opfer der Menschen bedurften, und er erkannte, dass eine der Hauptfolgen dieser Theologie darin bestand, dass die Menschen in Angst lebten. Da die Götter uns brauchten, pflegten sie uns zu manipulieren, um ihre Wünsche zu befriedigen, und wenn sie nicht ausreichend geehrt wurden, konnten (und würden) sie um sich schlagen. Aber der Gott der Bibel, der in sich selbst vollkommen ist, braucht überhaupt nichts. Selbst in seinem großen Akt der Erschaffung des Universums benötigt er keine bereits zuvor existente Materie, um es zu erschaffen; vielmehr (und Irenäus war der erste bedeutende christliche Theologe, der dies erkannte) schuf er das Universum „ex nihilo“ (= „aus dem Nichts“).

Und weil er die Welt nicht braucht, erschafft er sie in einem unendlich großzügigen Akt der Liebe. Liebe ist, wie ich nicht müde werde zu wiederholen, nicht in erster Linie ein Gefühl oder eine Empfindung, sondern ein Akt des Willens. Die Liebe besteht darin, das Wohl des Anderen als Anderen zu wollen. Ein Gott, der überhaupt kein Eigeninteresse hat, kann nur lieben.

Von dieser Intuition geht die gesamte Theologie des Irenäus aus. Gott erschafft den Kosmos in einer Explosion der Großzügigkeit und lässt unzählige Pflanzen, Tiere, Planeten, Sterne, Engel und Menschen entstehen, die alle einen Aspekt seiner eigenen Herrlichkeit widerspiegeln sollen. Irenäus liebt es, die Veränderungen mit der Metapher von Gott als Künstler zu umschreiben. Jedes Element der Schöpfung ist wie eine Farbe, die auf die Leinwand aufgetragen wird, oder ein Stein im Mosaik oder ein Ton in einer harmonischen Melodie. Wenn wir den Gleichklang der vielen Elemente von Gottes Universum nicht zu schätzen wissen, liegt das nur daran, dass unser Verstand zu klein ist, um den Entwurf des Meisters zu erfassen. Sein ganzer Zweck bei der Schaffung dieser symphonischen Ordnung ist es, anderen Realitäten die Teilnahme an seiner Vollkommenheit zu ermöglichen. An der Spitze von Gottes physischer Schöpfung steht der Mensch, den er ins Dasein liebte wie alle Dinge, der aber eingeladen ist, noch mehr an Gottes Vollkommenheit teilzuhaben, indem er seinen Schöpfer liebt.

Das meistzitierte Zitat von Irenäus stammt aus dem vierten Buch der „Adversus Haereses“ und lautet wie folgt: „Die Herrlichkeit Gottes ist der Mensch in seiner ganzen Lebendigkeit.“ Verstehen wir, wie dies genau mit der Behauptung zusammenhängt, dass Gott nichts braucht? Der Ruhm der heidnischen Götter und Göttinnen war nicht ein lebendiger Mensch, sondern ein Mensch, der sich unterordnet, ein Mensch, der tut, was ihm befohlen wird. Aber der wahre Gott spielt nicht solch manipulative Spiele. Er findet seine Freude darin, unser Wohl in vollem Umfang zu wollen.

Eine der schönsten und faszinierendsten Ideen des heiligen Irenäus ist die, dass Gott als eine Art wohlwollender Lehrer fungiert, der die Menschheit allmählich in die Wege der Liebe einweist. Er stellte sich Adam und Eva nicht so sehr als Erwachsene vor, die mit jeder geistigen und intellektuellen Vollkommenheit ausgestattet sind, sondern eher als Kinder oder Teenager, die in ihrem Ausdruck der Freiheit unvermeidlich unbeholfen sind. Die lange Heilsgeschichte ist daher der geduldige Versuch Gottes, seine menschlichen Geschöpfe zu seinen Freunden zu erziehen. Alle Bündnisse, Gesetze, Gebote und Rituale sowohl des alten Israel als auch der Kirche sollten in diesem Licht gesehen werden: nicht als willkürliche Befehle, sondern als Struktur, die Gott, der Vater, seinen Kindern gibt, um sie zur vollen Entfaltung zu bringen.

Es gibt viel, was wir von diesem alten Meister des christlichen Glaubens lernen können, insbesondere was die gute Nachricht von dem Gott betrifft, der uns nicht braucht!

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Bischof Robert Barron

Bischof Robert Barron Der Artikel erschien ursprünglich bei wordonfire.org. Nachdruck mit Genehmigung

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