Startseite/Genießen/Artikel

Jan 02, 2024 308 0 Bischof Robert Barron, USA
Genießen

Ein Gott, der in den Schmutz herabsteigt

Es gibt eine bedauerliche Interpretation des Kreuzes, die sich leider in den Köpfen vieler Christen festgesetzt hat. Es handelt sich um die Auffassung, dass das blutige Opfer des Sohnes am Kreuz den Vater „befriedigt“ hat: die Besänftigung eines Gottes, der unendlich zornig auf die sündhafte Menschheit ist. Nach dieser Lesart ist der gekreuzigte Jesus wie ein Kind, das in den feurigen Mund einer heidnischen Gottheit geworfen wird, um deren Zorn zu besänftigen.

Doch was diese verkehrte Theologie letztlich widerlegt, ist die bekannte Stelle aus dem Johannesevangelium: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat.“ (Johannes 3,16)

Damit macht Johannes deutlich, dass der Vater den Sohn nicht einfach aus Zorn, Rache oder aus einem Wunsch nach Vergeltung sendet, sondern aus Liebe. Gott, der Vater, ist keine jämmerliche Gottheit, deren verletzte persönliche Ehre wiederhergestellt werden muss; Gott ist vielmehr ein Vater, der vor Mitleid mit seinen Kindern brennt, weil sie sich in Gefahr begeben haben.

Hasst der Vater die Sünder? Nein, aber er hasst die Sünde. Ist Gott entrüstet über die Ungerechten? Nein, aber Gott verachtet die Ungerechtigkeit. Deshalb schickt Gott seinen Sohn auch nicht aus einer Freude heraus, ihn leiden zu sehen, sondern aus Barmherzigkeit, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.

Der heilige Anselm von Canterbury, der große mittelalterliche Theologe, der oft zu Unrecht für die grauenhafte Theologie der Genugtuung verantwortlich gemacht wird, war in diesem Punkt sehr klar. Wir Sünder sind wie Diamanten, die in den Dreck gefallen sind. Nach dem Bild Gottes geschaffen, haben wir uns durch Gewalt und Hass beschmutzt. Gott, so Anselm, hätte einfach ein Wort der Vergebung vom Himmel aussprechen können, doch das hätte das Problem nicht gelöst. Das allein hätte den Diamanten nicht wieder zu ihrem ursprünglichen Glanz verholfen. Stattdessen stieg Gott in seinem leidenschaftlichen Bemühen, die Schönheit der Schöpfung wiederherzustellen, in den Dreck der Sünde und des Todes hinab, holte die Diamanten herauf und polierte sie.

Natürlich musste Gott sich dadurch selbst schmutzig machen. Genau dieses Hinabsteigen in den Schmutz – diese göttliche Solidarität mit den Verlorenen – ist das „Opfer“, das der Sohn zum unendlichen Wohlgefallen des Vaters bringt. Es ist ein Opfer, das nicht Zorn oder Rache zum Ausdruck bringt, sondern Mitleid.

Jesus sagte, dass jeder seiner Jünger bereit sein muss, sein Kreuz auf sich zu nehmen und dem Meister zu folgen. Wenn aber Gott solch eine selbstvergessene Liebe bis zum Tod ist, dann müssen auch wir eine solche Liebe sein. Wenn Gott bereit ist, sein eigenes Herz aufzubrechen, dann müssen auch wir bereit sein, unser Herz für andere aufzubrechen. Kurz gesagt, muss das Kreuz die eigentliche Struktur unseres christlichen Lebens werden.

Teilen:

Bischof Robert Barron

Bischof Robert Barron Der Artikel erschien ursprünglich bei wordonfire.org. Nachdruck mit Genehmigung

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Neueste Artikel