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Okt 12, 2024 2 0 Christian Müller
Genießen

Atheismus ist unlogisch

Wissenschaftlich denkende Menschen müssen Atheisten sein. Ist doch logisch, oder? Das glaubte auch unser Autor, Prof. Dr. Christian Müller, lange Zeit. Bis er sich näher mit Logik beschäftigte.

Ein wissenschaftlich denkender Mensch kann nicht an Gott glauben. Die Wissenschaft hat die Religion längst hinter sich gelassen. Wissenschaft setzt Atheismus voraus – das ist doch logisch!

So oder so ähnlich höre ich es immer wieder, auch von meinen Kollegen in der Universität. Religion, besonders die christliche, gilt vielen als so antiquiert, dass man sich gar nicht mehr die Mühe macht, sie zu widerlegen. Für viele ist es einfach klar, dass Atheismus die einzig vernünftige Position ist.

Auch ich habe seit meiner Schulzeit so gedacht. Unter dem Einfluss von Lehrern las ich schon als Schüler begeistert die Klassiker der religionskritischen Literatur – von Voltaire bis Holbach, von Russell bis Deschner. Seitdem wähnte ich mich jeder Religion intellektuell weit überlegen.

An der Universität vertiefte sich mein Atheismus noch einmal, als ich mich mit der Erkenntnistheorie des Philosophen Karl Popper beschäftigte. Sie zeigt u. a., dass Aussagen über die Realität, wenn sie „wissenschaftliche Aussagen“ sein sollen, widerlegbar („falsifizierbar“) sein müssen: Eine Aussage muss also so formuliert sein, dass man, wenn sie falsch ist, ihre Falschheit auch nachweisen können muss. Nehmen wir als Beispiel das Gravitationsgesetz aus der Physik. Es besagt, dass, wenn man physikalische Körper loslässt, sie „nach unten“ streben und sie sich dem Erdmittelpunkt annähern. Eine Kaffeetasse etwa ist so ein Körper. Wenn ich sie loslasse, zerschmettert sie auf dem Boden. Bliebe sie dagegen in der Luft hängen oder würde sie von der Erde wegstreben, wäre das Gravitationsgesetz nachweislich falsch. Das Gravitationsgesetz ist also widerlegbar.

Wenn der Hahn kräht auf dem Mist

Ein anderer Satz, der wegen seiner Wenn-dann-Struktur auch aussieht wie eine wissenschaftliche Aussage, aber keine ist, wäre beispielsweise: „Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist.“ Dieser Satz ist offensichtlich nicht widerlegbar. Man sieht sofort, dass diese Aussage wahr ist: Ist die Wenn-Komponente des Satzes erfüllt ist (ein Hahn hat gekräht), sagt die Dann-Komponente für die Entwicklung des Wetters alle logischen Möglichkeiten voraus: Es kann besser oder schlechter werden oder gleichbleiben. Dieser Satz ist daher nicht widerlegbar. Um zu wissen, dass er wahr ist, muss man nicht das tatsächliche Verhalten von Hähnen studieren. Diese Aussage ist immer wahr (logisch wahr) – und genau deshalb sagt sie nichts über die Welt aus, in der wir leben. Die Widerlegbarkeit von Sätzen ist nach Popper daher ein Kriterium für die „Wissenschaftlichkeit“ eines Satzes: Nur solche Aussagen sollten daher in den Natur- oder Sozialwissenschaften verwendet werden, die man prinzipiell widerlegen kann.

Diese erkenntnistheoretischen Überlegungen waren der Grund, warum ich jahrelang jede Form von Theologie ablehnte. Denn Theologie basiert immer auf der Aussage: „Gott existiert.“ Diese Aussage ist aber nicht widerlegbar – und daher keine „wissenschaftliche Aussage“. Nehmen wir an, ich durchquere die ganze Welt, um Gott irgendwo zu treffen, begegne ihm aber nirgendwo. Darf ich daraus schließen, dass Gott nicht existiert? Nein, denn das Universum ist, soweit wir wissen, unendlich. Meine eigenen Versuche, die Nichtexistenz Gottes nachzuweisen, können aber immer nur von endlicher Zahl sein. Wenn ich also folgere, dass Gott, weil ich ihm nirgendwo begegnet bin, tatsächlich nicht existiert, begehe ich einen sogenannten Induktionsschluss: Ich schließe von einem begrenzten Sachverhalt, meinen endlich vielen Überprüfungsversuchen, auf das unendlich große Universum. Das aber ist logisch unzulässig.

Wie die meisten meiner Wissenschaftlerkollegen zog ich hieraus die radikale Konsequenz, jede Annahme der Existenz Gottes sei nicht wissenschaftlich und unsinnig und ich strich sie – nun erst recht – aus meinem Denken. An Gott zu glauben, meinte ich schlicht, ist „unwissenschaftlich“.

Atheismus ist ein Glaube

Heute staune ich selbst darüber, dass ich das Nächstliegende jedoch erst Jahre später erkannte: dass nämlich gerade die Wissenschaftslogik die Unhaltbarkeit meines eigenen Atheismus nahelegte. Denn wenn die Existenz Gottes aus logischen Gründen nicht widerlegbar ist, dann kann ich niemals Sicherheit darüber haben, dass Gott nicht existiert. Das kann man vermuten, spekulieren, wünschen – wissen kann man das aber nicht. Atheismus, die Ansicht, dass Gott sicher nicht existiert, ist damit immer unhaltbar – aus rein logischen Gründen. Was so überheblich und selbstsicher daherkommt wie der Atheismus vieler meiner Wissenschaftlerkollegen, steht daher in Wahrheit auf äußerst tönernen Füßen: Denn es gibt keine sichere wissenschaftliche Erkenntnis über die Nichtexistenz Gottes. Es kann sie nicht geben. Der Atheist kann immer nur glauben, dass Gott nicht existiert – nicht weniger, als ein Christ glaubt, dass es Gott gibt.

Ich war schon fast 34 Jahre alt, Familienvater und weit mit meiner wissenschaftlichen Karriere vorangeschritten, als diese Einsicht bei mir wirklich „ankam“. Sie haute mich buchstäblich aus den Socken. Denn das alles bedeutete ja, dass ich mit meinem Unglauben auch unrecht haben könnte. Was aber, wenn alles ganz anders wäre, als ich es mir bisher zurechtgelegt hatte – wenn es doch „einen Gott“ gäbe? Zum ersten Mal dämmerte mir, dass mein ganzes Weltbild falsch könnte.

Mir war klar, dass ich nicht einfach so weitermachen konnte wie bisher. Ich musste mich neu auf die Reise machen, um die Frage nach Gott und den Grundlagen des christlichen Glaubens noch einmal neu anzugehen – und dies zum ersten Mal ganz unvoreingenommen und konstruktiv. Als Wissenschaftler eben. Es sollte die spannendste und schönste Reise meines Lebens werden.

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Christian Müller

Christian Müller ist 57 Jahre alt, verheiratet und Vater von drei z.T. schon erwachsenen Kindern. Er promovierte (1999) und habilitierte sich (2004) im Fach Volkswirtschaftslehre an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2008 ist er Professor für Wirtschaftswissenschaften und Ökonomische Bildung an der Universität Münster. Kürzlich erschien sein neuestes Buch „Grundzüge der Wirtschafts- und Unternehmensethik“ (Schäffer-Poeschel). In seiner Freizeit engagiert sich Christian Müller u.a. in der Redaktion der deutschsprachigen Redaktion des Magazins Shalom Tidings und in der Vereinigung Christen im Beruf e.V.

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