Startseite/Engagieren/Artikel

Jun 01, 2021 602 0 Bischof Robert Barron, USA
Engagieren

Worte der Weisheit: „HERRSCHAFT“, DIE WERTE DES WESTENS UND DAS KREUZ CHRISTI

Der populäre Historiker Tom Holland schrieb ein außergewöhnliches Buch mit dem Titel Herrschaft: Die Entstehung des Westens. (Original Untertitel: Wie die christliche Revolution die Weltordnung verändert hat.) Der Untertitel bringt seine Argumentation auf den Punkt. Holland zeigt sich zutiefst ungeduldig mit der säkularen Ideologie, die in der akademischen Welt vorherrscht und die das Christentum gerne als eine entlarvte, veraltete Religion betrachtet, als ein Überbleibsel aus einem primitiven, vorwissenschaftlichen Zeitalter, als eine Blockade für den moralischen und intellektuellen Fortschritt. Tatsächlich, sagt er, war und ist das Christentum die mächtigste Gestaltkraft des westlichen Geistes, wobei sein Einfluss so allgegenwärtig und so tief ist, dass er leicht übersehen wird.

Hollands sehr effektive Strategie der Herleitung  besteht darin, das Christentum zunächst zu entfremden, indem er brutal realistisch darstellt, was die Kreuzigung in der antiken Welt bedeutete. An einem römischen Kreuz hingerichtet zu werden, war so ziemlich das schlimmste Schicksal, das man sich zu jener Zeit vorstellen konnte. Allein die Tatsache, dass unser Wort „eine Krux“ (ein mühseliges, beschwerliches Problem) vom lateinischen Wort crux für Kreuz stammt, erklärt einiges. Doch noch schlimmer als die körperlichen Qualen war die unsagbare Demütigung. Nackt ausgezogen zu werden, an zwei Holzstücke genagelt zu werden, im Laufe von mehreren Stunden oder sogar Tagen zu sterben, während man dem Spott der Passanten ausgesetzt war, und dann, sogar nach dem Tod, seinen Körper den Vögeln des Himmels und den Tieren des Feldes zum Fraß zu überlassen, war die größtmögliche Erniedrigung. Dass also die ersten Christen einen gekreuzigten Verbrecher als den auferstandenen Sohn Gottes verkündeten, hätte nicht befremdlicher, anstößiger und bahnbrechender sein können. Es widersprach allen Vorstellungen der antiken Welt über Gott, die Menschen und die richtige Gesellschaftsordnung. Wenn Gott mit einem gekreuzigten Mann identifiziert werden konnte, dann bedeutete das, dass auch die Vergessenen und Geringsten unserer Menschenfamilie liebenswert sind. Und dass die ersten Jünger Jesu diese Wahrheit nicht nur verkündeten, sondern konkret lebten, indem sie sich um Obdachlose, Kranke, Neugeborene und Alte kümmerten, machte ihre Botschaft noch revolutionärer.

Obwohl Holland noch viele andere Wege aufzeigt, wie die christliche Philosophie die westliche Zivilisation beeinflusst hat, stellt er diese These vom gekreuzigten Jesus als die einflussreichste vor. Dass wir es als selbstverständlich erachten, dass jedes menschliche Wesen Respekt verdient, dass alle Menschen Träger gleicher Rechte und Würde sind, dass mitfühlende Liebe die lobenswerteste ethische Haltung ist, ist ganz einfach eine Funktion unserer christlich-kulturellen Prägung, ob wir es anerkennen oder nicht. Der Beweis dafür lässt sich finden, wenn man in die antike Zivilisation zurückblickt, in der keine dieser Denkweisen sich durchsetzte, und wenn man auch heute noch Gesellschaften betrachtet, die nicht vom Christentum geprägt sind und in denen diese Werte keineswegs als selbstverständlich gelten.

Großteils besteht Hollands Buch aus der Analyse von Schlüsselmomenten in der westlichen Geschichte, die den Einfluss seiner These vom Kreuz sichtbar machen. Besonders hervorheben möchte ich seine Lektüre der Aufklärung, deren politische Werte ohne das Evangelium nicht denkbar sind, und der zeitgenössischen „Woke“-Bewegungen, die sich mit dem Leid von Opfern und Ausgegrenzten beschäftigen, was wiederum die Frucht einer Kultur ist, in deren Zentrum seit zweitausend Jahren ein gekreuzigter und zu Unrecht verurteilter Mensch steht. Ich schätzte besonders seine Berichterstattung über die berühmte Abbey Road-Aufnahme des Lieds „All You Need is Love“ von den Beatles, welches 1967 vor einem Live-Publikum gedreht wurde. Mit der Stimmung, die dieser kultige Song vermittelt, würde weder Kaiser Augustus noch Dschingis Khan oder Friedrich Nietzsche sympathisieren, sie passt aber perfekt mit dem Gedankengut eines heiligen Augustinus, Thomas von Aquin, Franz von Assisi und Apostel Paulus zusammen. Ob es uns gefällt oder nicht, die christliche Revolution prägt massiv die Art und Weise, wie wir im Westen weiterhin die Welt sehen.

Mit diesem Teil von Hollands Argumentation – und der nimmt immerhin 90 % des Buches ein – bin ich völlig einverstanden. Der Punkt, den er anspricht, ist nicht nur wahr, er ist von entscheidender Bedeutung heutzutage, weil das Christentum so oft niedergemacht und an den Rand gedrängt wird. Trotzdem hat sich für mich das ganze Buch am Ende aufgelöst, als der Autor zugab, dass er weder an Gott noch an die Gottheit Jesu oder seine Auferstehung glaubt. Die revolutionäre Ethik, die sich aus diesem Glauben ergibt, findet er zwar spannend, aber die Überzeugungen selbst sind seiner Meinung nach ohne Berechtigung. Dieses Herausdestillieren eines ethischen Systems aus zutiefst fragwürdigen Dogmen ist ein vertrauter Zug unter den modernen Philosophen. Sowohl Immanuel Kant als auch Thomas Jefferson versuchten, genau das zu tun. Aber es ist ein törichtes Unternehmen, denn es ist letztlich unmöglich, die christliche Ethik von der Metaphysik und von der Geschichte zu trennen. Wenn es keinen Gott gibt und Jesus nicht von den Toten auferstanden ist, wie um alles in der Welt kann es dann sein, dass jeder Mensch unendlichen Respekt verdient und unantastbare Rechte hat? Wenn es keinen Gott gibt und Jesus nicht von den Toten auferstanden ist, wie könnten wir dann nicht zu dem Schluss kommen, dass der Kaiser kraft seines schrecklichen Kreuzes gewonnen hat? Jesus mag vielleicht als ethischer Lehrer für den Mut seiner Überzeugungen bewundert werden, aber wenn er starb und in seinem Grab blieb, dann herrscht Machtpolitik, und die Bejahung der Würde jedes Menschen ist nur eine alberne Wunscherfüllung.

Es ist aufschlussreich, dass die ersten Christen, als sie das Evangelium verkündeten, nicht von Menschenrechten oder der Würde aller oder von anderen solchen Abstraktionen sprachen; sie sprachen von Jesus, der durch die Kraft des Heiligen Geistes von den Toten auferstanden ist. Sie bestanden darauf, dass Er, den das Kaiserreich getötet hatte, von Gott auferweckt worden war. Tom Holland hat völlig Recht, dass viele der besten ethischen und politischen Instinkte des Westens in Christus wurzeln. Aber so wie Schnittblumen nur eine kurze Zeit im Wasser überdauern, so werden diese Ideen nicht lange Bestand haben, wenn wir sie von der verblüffenden Faktizität des Kreuzes Jesu abkoppeln.

Teilen:

Bischof Robert Barron

Bischof Robert Barron Der Artikel erschien ursprünglich bei wordonfire.org. Nachdruck mit Genehmigung

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Neueste Artikel